Qualitative Begleitforschung des schulischen Gewaltpräventionsprojektes "GERNIE - Gewalt - Erkennen - Reagieren. Neuorientierung Integrativer Erziehung" an der IGS-Linden

Dissertationsprojekt: Schulische Gewaltprävention - Evaluation eines Praxismodells mit Mehr-Ebenen-Ansatz
Von: Tanja Tralau, Dipl.-Päd.
Betreuer: Prof. Dr. Andreas Böttger

Die Dissertation soll einen Betrag leisten in der Diskussion um die Wirksamkeit gewaltpräventiver Ansätze. Im Fokus wird dabei die qualitative wissenschaftliche Begleitforschung des schulischen Gewaltpräventionsprojektes "GERNIE" stehen, das sowohl bei den Schülern und Schülerinnen sowie der Schulkultur ansetzt, als auch die unterschiedlichen Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit im Stadtteil miteinbezieht. Die gemeinsam von einer Schule und Jugend(hilfe-)einrichtungen entwickelte Konzeption wurde bis jetzt an über 500 weitere Schulen versandt und zum Teil in deren Schulkonzepte integriert, so dass das Präventionskonzept in seiner Modellhaftigkeit systematisch untersucht werden soll.

Forschungsstand

Insbesondere praktizierte Maßnahmen schulischer Gewaltprävention wurden in Deutschland bisher nicht ausreichend evaluiert, die bisher vorliegenden Untersuchungen stammen vorwiegend aus dem englischsprachigen Raum (vgl. Lösel/ Bliesener 2003, S. 168). Dennoch lässt sich konstatieren - obwohl die vorwiegend amerikanischen Ergebnisse nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragbar sind - dass die verschiedene Präventionsansätze zu positiven Effekten geführt haben (vgl. Schick/ Ott 2002).

Nach Schick und Ott (ebd.) lassen sich schulische Präventionsprogramme anhand ihrer spezifischen Ansatzpunkteunterteilen in: "Strukturelle und organisatorische Maßnahmen" (Ziel: räumliche Neugestaltung und organisatorische Innovation), "Ansätze zur Förderung gewaltpräventiver Kompetenzen der Lehrkräfte"(Ziel: Fortbildung im Bereich der Wahrneh-mung von und Intervention bei Gewalt) "Gewaltpräventions-Programme für Schülerinnen und Schüler" (Ziel: erlernen sozialer Schlüsselkompetenzen) und "Mehr-Ebenen-Ansätze" (Kombination der unterschiedlichen Ansätze). Die wenigen aus dem deutschen Sprachraum vorliegenden Untersuchungen evaluieren vor allem Maßnahmen auf der Ebene der Schüler/-innen. "Idealerweise setzen Präventionsmaßnahmen an verschiedenen Ebenen gleichzeitig an (...) und integrieren unterschiedliche gewaltpräventive Bemühungen" (ebd., S.783). Dennoch sind in der deutschsprachigen Literatur bisher kaum Mehr-Ebenen-Ansätze dokumentiert, geschweige denn untersucht worden, lediglich in der englischsprachi-gen Literatur liegen bereits einige Mehr-Ebenen-Konzepte inklusive Evaluation vor.

Die geplanten Dissertation soll mit der Evaluation eines Mehr-Ebenen-Konzeptes diese Lücke ein Stück weit schließen.

Untersuchungsgegenstand: "GERNIE"

Das Gewaltpräventionsprojekt GERNIE (Gewalt- Erkennen- Reagieren. Neuorientierung Integrativer Erziehung.) ist seit 1999 fester Bestandteil des Schulkonzepts der Integrierten Gesamtschule (IGS) Linden in Hannover und wird in Kooperation mit Stadtteilinstitutionen der Kinder- und Jugendarbeit durchgeführt.

Die IGS Linden ist die größte Schule im Stadtteil und arbeitet nach einem sozialräumlichen Ansatz. Viele Kinder und Jugendliche des Stadtteils besuchen die Schule, so dass sich ein Großteil der im Stadtteil sichtbaren Konflikt- und Gewaltproblematik im Ganztagsbetrieb der Schule widerspiegelt. Die Besonderheit des Konzepts liegt in der Kooperation mit Stadtteilinstitutionen wie Jugendzentren, Freizeithei-men sowie mit Polizei und Kirchen. Dadurch sollen einerseits möglichst viele Kinder und Jugendliche des Stadtteils erreicht werden sowie positive Impulse in den Stadtteil wirken, andererseits die vorhandenen Ressourcen des Stadtteils optimal genutzt werden und die Vernetzung der Bildungs- sowie Kinder- und Jugendarbeit gestärkt werden.

Das Mehr-Ebenen- Konzept umfasst die drei Bausteine: Sozialtraining, erlebnispädagogische Klassen-fahrten und Ausbildung von Schüler/-innen zu Streitschlichter/-innen. Die unterschiedlichen Bausteine setzen auf den Ebenen Schüler/-innen, Lehrkräfte, Klassengemeinschaft, Schulkultur und Stadt-teil an.

1) Sozialtraining im fünften Jahrgang der Schule:
Ziel dieses ersten Bausteins ist es, soziale und emotionale Kompetenzen zu fördern und zu trainieren, um Gewalt vorzubeugen. Über die Wahrnehmung und Artikulation der eigenen Wünsche und Grenzen soll erlernt werden, auch die Grenzen anderer zu wahren. Insbesondere in diesem Baustein kommt der Kooperation von Schule mit den umliegenden Stadtteilinstitutionen, wie Jugendzentren, Freizeitheimen, Polizei und Kirchen eine besondere Bedeutung zu. Nach einer Multiplikatorenfortbildung führen Lehrer/-innen der Schule und Pädagogen/-innen der genannten Institutionen des Stadtteils das Sozialtraining gemeinsam, außerhalb der Schule mit den Klassen durch

2) Erlebnispädagogisch orientierte Klassenfahrten im sechsten Jahrgang:
Der zweite Baustein knüpft an das Sozialtraining an. Das intensive Gemeinschaftserleben der Klassen-fahrt soll genutzt werden, um weitere Gruppenprozesse in Gang zu setzen und individuelle Kompetenzen im Sozialverhalten zu erweitern.

3) Ausbildung von Schüler/-innen der höheren Jahrgänge zu Streitschlichtern/-innen:
Die Streitschlichter/-innen werden nach dem Modell der Mediation im Täter-Opfer-Ausgleich ausgebil-det und sollen im Konfliktfall zwischen zwei Schüler/-innen als neutrale Vermittelnde fungieren können. Basierend auf der Annahme, dass Schüler/-innen untereinander die gleiche Sprache sprechen und die Schülerstreitschlichter/-innen mit den Konfliktparteien statusgleich sind, setzt die Vermittlung auf gleicher Ebene an und kann u.U. erfolgreicher sein als die von Erwachsenen.

Methodischer und theoretischer Zugang

Um der Prozesshaftigkeit und Komplexität pädagogischer Handlungen gerecht zu werden, ist das Promotionsvorhaben als eine qualitative Begleitforschung konzipiert. Zum einen werden in einer abschließenden Beurteilung Aussagen über die Wirkung und Nachhaltigkeit getroffen ("summative Evaluation"). Diese verläuft entlang der Projektziele, die zu Beginn der Evalua-tion mit allen Beteiligen präzisiert werden. Andererseits soll der gesamte Forschungsprozess in re-gelmäßiger Rückkopplung zu dem Projekt stehen und somit Einfluss auf dessen Verlauf im Sinne einer Qualitätssicherung nehmen ("formative Evaluation") (Wottawa/Thierau 1998: 63).

Nach der Explikation der Projektziele mit Vertretern der an GERNIE beteiligten Institutionen werden anhand der Ziele die Erhebungsinstrumente entwickelt. In einer ersten Erhebungsphase (2005) werden während eines gesamten Projektdurchlaufs (ca. 1Jahr) mittels teilnehmender Beobachtung und Grup-pendiskussionen die Wertvorstellungen und Interaktionsmuster der Schüler/-innen in ihrer eigenen Lebenswelt exploriert und erhoben. Qualitative Interviews mit Eltern und pädagogischen Fachkräften aus Schule und Stadtteil ermöglichen eine offene kommunikationsfördernde Datenerhebung, die durch einen Leitfaden genügend Struktur für eine analytisch zielorientierte Erfassung erhält. Die Auswertung erfolgt anhand des transkribierten Datenmaterials als qualitative Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 1988). Vor Beginn der zweiten Erhebungsphase (2006) werden erste tendenziel-le Ergebnisse an die Projektbeteiligten zurückgemeldet und so die Möglichkeit gegeben die Befunde zu diskutieren, auch im Hinblick auf mögliche Modifikationen der Durchführung des Projekts. Da die Evaluation auf den Annahmen des theoretischen Sampling beruht kann insbesondere in der zweite Erhebungsphase der Prozesshaftigkeit und den Entwicklungen des Praxisprojektes Rechnung getra-gen werden und tiefere Einblicke in das Geschehen und den Gegenstand gewonnen werden.

Abschließend werden die Ergebnisse an die Beteiligten zurück gemeldet und mit ihnen diskutiert sowie in einem Abschlussbericht verschriftlicht.

Theoretisch verortet ist die geplante Dissertation vornehmlich im symbolischen Interaktionismus. Dieser basiert auf der Grundannahme, dass soziale Wirklichkeit eine durch Interpretationshandlungen konstruierte Realität ist. Für die wissenschaftliche Erforschung von sozialen Handlungen bedeutet dies, dass Kontakt mit der aus ständigen Interaktionsprozessen bestehenden empirischen Welt aufgenommen werden muss, um sich auf die individuellen Sichtweisen einzulassen und die jeweiligen Konstrukte von Wirklichkeit analytisch zu erfassen (Lamnek 1995: 46ff). Um diesem "interpretativen Paradigma" gerecht zu werden, ist die Konzeption der Evaluation durch eine qualitative Methodik gekennzeichnet, die die subjektiven Ebenen der Interpretation der Akteure in ihrem Kontext miteinbezieht.

Gefördert wird das Dissertationsprojekt durch die Friedrich-Ebert-Stiftung.

Literatur:
LAMNEK, Siegfried (1995): Qualitative Sozialforschung - Band 1 Methodologie. 3., korrigierte Auflage. Weinheim/ München: Juventa.
LÖSEL, F./ BLIESENER, T. (2003): Aggression und Delinquenz unter Jugendlichen. Untersuchungen von kognitiven und sozialen Bedingungen. Neuwied: Luchterhand.
MAYRING, P. (1988): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim: Belz.
SCHICK, A./ OTT, I. (2002): Gewaltprävention an Schulen - Ansätze und Ergebnisse. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 51, S.766 - 791.
WOTTAWA, Heinrich/ THIERAU, Heike (1998): Lehrbuch Evaluation. 2., vollst. überarb. Aufl. Bern: Verlag Hans Huber.